Die roten Schuhe

Da war ein kleines Mädchen, fein und niedlich, aber im Sommer musste sie immer mit bloßen Füßen gehen, denn sie war arm, und im Winter mit großen Holzschuhen, sodass der kleine Fuß ganz rot wurde, und das sah zum Erbarmen aus.

Mitten im Dorfe wohnte die alte Mutter Schuhmacher, sie saß und nähte, so gut sie konnte, von alten, roten Tuchstreifen ein Paar kleine Schuhe. Sie waren ganz plump, aber es war gut gemeint, die sollte das kleine Mädchen haben. Das kleine Mädchen hieß Marie.

Gerade an dem Tage, als ihre Mutter begraben wurde, erhielt sie die roten Schuhe und hatte sie zum ersten Male angezogen. Freilich war es nicht, um damit zu trauern, aber sie hatte keine andern, daher ging sie mit diesen hinter dem ärmlichen Sarge her.

Da kam auf einmal ein großer Wagen, und darin saß eine alte Dame; sie betrachtete das kleine Mädchen und fühlte Mitleid mit ihr, und dann sagte sie zum Prediger: „Hört, gebt mir das kleine Mädchen, dann werde ich mich ihrer annehmen!“

Marie glaubte, das geschehe alles nur der roten Schuhe wegen, aber die alte Dame meinte, die seien greulich, und sie wurden verbrannt. Marie selbst aber wurde rein und ordentlich angezogen; sie mußte lesen und nähen lernen, und die Leute sagten, sie sei niedlich, aber der Spiegel sagte: „Du bist weit mehr als niedlich, Du bist schön!“

Da reiste die Königin einst durch das Land und hatte ihre kleine Tochter bei sich, das war eine Prinzessin, und die Leute strömten nach dem Schlosse hin, und da war Marie denn auch, und die kleine Prinzessin stand in feinen, weißen Kleidern am Fenster und ließ sich anstaunen, sie hatte weder Schleppe noch Goldkrone, aber herrliche, rote Saffianschuhe, die freilich weit schöner waren, als die, welche die Mutter Schuhmacher der kleinen Marie genäht hatte. Nichts in der Welt kann doch mit roten Schuhen verglichen werden!

Nun war Marie so alt, daß sie eingesegnet werden sollte, sie bekam neue Kleider, und neue Schuhe sollte sie auch haben. Der Schuhmacher in der Stadt nahm Maß zu ihrem kleinen Fuß, das geschah zu Hause in seinem eigenen Zimmer, und da standen große Glasschränke mit niedlichen Schuhen und glänzenden Stiefeln. Das sah allerliebst aus, aber die alte Dame konnte nicht gut sehen und da hatte sie kein Vergnügen daran. Mitten unter den Schuhen standen ein Paar rote, ganz wie die, welche die Prinzessin getragen hatte; wie schön waren die! Der Schuhmacher sagte auch, daß sie für ein Grafenkind gemacht seien, sie hätten aber nicht gepaßt.

„Das ist wohl Glanzleder?“ fragte die alte Dame. „Sie glänzen so!“

„Ja, sie glänzen!“ sagte Marie, und sie passten und wurden gekauft, aber die alte Dame wußte nichts davon, daß sie rot waren, denn sie hätte Marie nie erlaubt, in roten Schuhen zur Einsegnung zu gehen, aber das that sie nun.

Alle Menschen betrachteten ihre Füße, und als sie zur Chortür über die Kirchenschwelle hinschritt, kam es ihr vor, als wenn selbst die alten Bilder auf den Begräbnissen, die Prediger und Predigerfrauen mit steifen Kragen und langen, schwarzen Kleidern, die Augen auf ihre roten Schuhe hefteten, und nur an diese dachte sie, als der Prediger seine Hand auf ihr Haupt legte und von der heiligen Taufe, vom Bunde mit Gott, und daß sie nun eine erwachsene Christin sein solle, sprach. Die Orgel spielte feierlich, die hübschen Kinderstimmen sangen und der alte Lehrer sang, aber Marie dachte nur an die roten Schuhe.

Am Nachmittage erfuhr die alte Dame von den Leuten, daß die Schuhe rot gewesen, und sie sagte, daß es häßlich sei und sich das nicht schicke, daß Marie später, wenn sie zur Kirche gehe, immer mit schwarzen Schuhen gehen solle, selbst wenn sie alt seien.

Am nächsten Sonntage war Abendmahl, und Marie betrachtete die schwarzen Schuhe, sie besah die roten – und besah sie wieder und zog die roten an.

Es war ein herrlicher Sonnenschein; Marie und die alte Dame gingen den Fußsteig durch das Korn entlang, da stäubte es ein wenig.

An der Kirchtür stand ein alter Soldat mit einem Krückstocke und mit einem wunderbar langen Barte, der war mehr rot als weiß, und er neigte sich bis zur Erde und fragte die alte Dame, ob er ihre Schuhe abwischen dürfe. Marie streckte auch ihren kleinen Fuß aus. „Sieh, was für schöne Tanzschuhe!“ sagte der Soldat, „sitzt fest, wenn Ihr tanzt!“ und dann schlug er mit der Hand gegen die Sohlen.

Die alte Dame gab dem Soldaten ein Almosen und dann ging sie mit Marie in die Kirche.

Alle Menschen drinnen sahen nach Mariens roten Schuhen, und alle Bilder sahen danach, und als Marie vor dem Altar kniete und den goldenen Kelch an ihren Mund setzte, dachte sie nur an die roten Schuhe, und es war ihr, als ob sie im Kelch herum schwimmen; und sie vergaß ihren Psalm zu singen, sie vergaß ihr „Vater unser“ zu beten.

Nun gingen alle Leute aus der Kirche, und die alte Dame stieg in ihren Wagen. Marie erhob den Fuß, um nachzusteigen, da sagte der alte Soldat: „Sieh, was für schöne Tanzschuhe!“ und Marie konnte nicht umhin, sie musste einige Tanztritte machen, und als sie anfing, fuhren die Beine fort zu tanzen, es war gerade, als hätten die Schuhe Macht über sie erhalten. Sie tanzte um die Kirchenecke, sie konnte es nicht lassen, der Kutscher musste hinterher laufen und sie greifen, und er hob sie in den Wagen, aber die Füße fuhren fort zu tanzen, sodass sie die gute, alte Dame gewaltig trat. Endlich zog sie die Schuhe aus und die Beine erhielten Ruhe.

Daheim wurden die Schuhe in einen Schrank gestellt, aber Marie konnte nicht unterlassen, sie zu betrachten.

Nun lag die Dame krank darnieder, es hieß, sie werde nicht wieder gesund. Gepflegt und gewartet mußte sie werden und niemand war dazu mehr verpflichtet als Marie. Aber in der Stadt war ein großer Ball. Marie war eingeladen; – sie betrachtete die alte Dame, die doch nicht genesen konnte, sie besah die roten Schuhe, und sie meinte, es sei keine Sünde dabei. – Sie zog die roten Schuhe an, das konnte sie ja auch wohl; aber dann ging sie zum Ball und fing an zu tanzen.

Als sie aber zur Rechten wollte, tanzten die Schuhe zur Linken, und als sie die Diele hinauf wollte, tanzten die Schuhe dieselbe hinunter, die Treppe hinab, durch die Straße aus dem Stadttor hinaus. Sie tanzte und mußte tanzen, gerade hinaus in den finstern Wald.

Da leuchtete es zwischen den Bäumen und sie glaubte, es sei der Mond, denn es war ein Gesicht, aber es war der alte Soldat mit dem roten Bart, er saß und nickte und sagte: „Sieh, was für schöne Tanzschuhe!“

Da erschrak sie und wollte die roten Schuhe abwerfen, aber die hingen fest, und sie schleuderte ihre Strümpfe ab, aber die Schuhe waren an den Füßen festgewachsen. Sie tanzte und mußte über Feld und Wiese, im Regen und Sonnenschein, bei Nacht und bei Tage tanzen, aber nachts war es am greulichsten.

Sie tanzte auf den offenen Kirchhof hinauf, aber die Toten dort tanzten nicht, die hatten etwas viel Besseres zu thun, als zu tanzen. Sie wollte sich auf des Armen Grab setzen, wo das bittere Farrenkraut wächst, aber für sie war weder Ruhe noch Rast, und als sie gegen die offene Kirchtür hintanzte, sah sie dort einen Engel in weißen Kleidern, mit Schwingen, die ihm von den Schultern bis zur Erde reichten, sein Antlitz war streng und ernst, und in der Hand hielt er ein Schwert, breit und glänzend.

„Tanzen sollst Du!“ sagte er, „tanzen auf Deinen roten Schuhen, bis Du bleich und kalt wirst, bis Deine Haut zu einem Gerippe zusammenschrumpfst! Tanzen sollst Du von Tür zu Tür, und wo stolze, hochmütige Kinder wohnen, sollst Du anklopfen, sodass sie Dich hören und fürchten! Tanzen sollst Du, tanzen – –!“

„Gnade!“ rief Marie. Aber sie hörte nicht, was der Engel erwiderte, denn die Schuhe trugen sie durch die Tür auf das Feld, über Weg und Steg, und immer mußte sie tanzen.

Eines Morgens tanzte sie an einer Tür vorbei, die sie gut kannte. Drinnen tönte Psalmengesang, ein Sarg wurde herausgetragen, der mit Blumen geschmückt war. Da wußte sie, daß die alte Dame gestorben war, und nun fühlte sie, daß sie von allen verlassen und von Gottes Engel verdammt sei.

Sie tanzte, und sie mußte tanzen, tanzen in der finstern Nacht. Die Schuhe trugen sie über Dorn und Sumpf davon, sie riß sich blutig; sie tanzte über die Haide dahin nach einem kleinen, einsamen Hause. Hier wußte sie, daß der Scharfrichter wohne und sie klopfte mit den Fingern an die Scheiben und sagte:

„Komm heraus! – komm heraus! – ich kann nicht hineinkommen, denn ich muß tanzen!“

Und der Scharfrichter sagte: „Du weißt wohl nicht, wer ich bin? Ich schlage den Menschen die Köpfe ab und ich merke, dass meine Axt klingt!“

„Schlage mir nicht den Kopf ab,“ sagte Marie, „denn dann kann ich meine Sünde nicht bereuen, aber schlage meine Füße mit den roten Schuhen ab!“

Sie bekannte ihre Sünde, und der Scharfrichter hieb ihr die Füße mit den roten Schuhen ab, aber die Schuhe tanzten mit den kleinen Füßen über das Feld dahin in den tiefen Wald hinein.

Er schnitzte ihr Holzfüße und Krücken, lehrte sie einen Psalm, den die Sünder immer singen, und sie küßte die Hand, die das Beil geführt hatte und ging über die Haide fort.

„Nun habe ich genug für die roten Schuhe gelitten,“ sagte sie, „nun will ich in die Kirche gehen, damit sie mich sehen können!“ Und sie ging rasch gegen die Kirchtür; als sie aber dahinkam, tanzten die roten Schuhe vor ihr her und sie erschrak und wendete um.

Die ganze Woche hindurch war sie betrübt und weinte viel bittere Thränen, aber als Sonntag wurde, sagte sie: „Nun habe ich genug gelitten und gestritten; ich glaube wohl, daß ich ebenso gut bin als manche von denen, die da in der Kirche sitzen und sich brüsten!“ Und dann ging sie mutig hin; aber sie kam nicht weiter, als bis zur Kirchhoftür, da sah sie die roten Schuhe vor sich hertanzen, und sie erschrak, wendete um und bereute recht von Herzen ihre Sünde.

Sie ging zur Pfarrwohnung und bat, daß man sie dort in Dienst nehmen möge, fleißig wolle sie sein, und alles thun, was sie könnte, auf den Lohn sehe sie nicht, nur daß sie unter Dach komme und bei guten Menschen sei. Die Predigerfrau hatte Mitleid mit ihr und nahm sie in ihren Dienst. Marie war fleißig und nachdenkend. Stille saß sie und horchte auf, wenn der Prediger des Abends aus der Bibel laut vorlas. Alle Kinder hielten viel von ihr, wenn sie aber von Putz und Pracht und von Schönheit sprachen, schüttelte sie mit dem Kopfe.

Am nächsten Sonntage gingen alle zur Kirche, und sie fragten sie, ob sie mitgehen wolle, aber sie blickte betrübt, mit Thränen in den Augen, auf ihre Krücken, und dann gingen die andern hin, Gottes Wort zu hören, sie aber ging allein in ihre kleine Kammer, die nicht größer war, als daß das Bett und ein Stuhl darin stehen konnten. Hier setzte sie sich mit ihrem Gesangbuch hin, und als sie mit frommem Sinn darin las, trug der Wind die Orgeltöne von der Kirche zu ihr herüber, und sie erhob ihr Antlitz mit Thränen und sagte: „O Gott, hilf mir!“

Da schien die Sonne ganz hell, und gerade vor ihr stand Gottes Engel in den weißen Kleidern, den sie in jener Nacht in der Kirchtür erblickt hatte, aber er hielt nicht mehr das scharfe Schwert, sondern einen herrlichen grünen Zweig, der voller Rosen saß.

Er berührte damit die Decke, und sie erhob sich hoch, und wo er sie berührt hatte, glänzte ein goldener Stern, und er berührte die Wände, die sich erweiterten, und sie erblickte die Orgel, welche spielte, sie sah die alten Bilder mit Predigern und Predigerfrauen, die Gemeinde saß in den geputzten Stühlen und sang aus ihren Gesangbüchern.

Denn die Kirche war selbst zu dem armen Mädchen in die enge Stube gekommen, oder auch war sie dahingekommen. Sie saß im Stuhl bei den übrigen Leuten des Predigers, und als sie den Psalm geendet hatten und aufblickten, nickten sie und sagten: „Das war recht, daß Du kamst, Marie!“

„Das war Gnade!“ sagte sie.

Und die Orgel klang und die Kinderstimmen im Chor tönten sanft und lieblich! Der klare Sonnenschein strömte warm durch das Fenster in den Kirchstuhl, wo Marie saß, hinein, ihr Herz wurde so voller Sonnenschein, Frieden und Freude, daß es brach. – Ihre Seele flog auf Sonnenschein zu Gott, und dort war niemand, der nach den roten Schuhen fragte.

Hans Christian Andersen, Gesammelte Märchen, um 1900.

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