Die zertanzten Schuhe

Die zertanzten Schuhe | Märchentext
15:21

Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter, eine immer schöner als die andere. Sie schliefen zusammen in einem Saal, wo ihre Betten nebeneinander standen, und abends, wenn sie darin lagen, schloß der König die Tür zu und verriegelte sie. Wenn er aber am Morgen die Türe aufschloß, so sah er, daß ihre Schuhe zertanzt waren, und niemand konnte herausbringen, wie das zugegangen war.Da ließ der König ausrufen, wer's könnte ausfindig machen, wo sie in der Nacht tanzten, der sollte sich eine davon zur Frau wählen und nach seinem Tod König sein: wer sich aber meldete und es nach drei Tagen und Nächten nicht herausbrächte, der hätte sein Leben verwirkt. Nicht lange, so meldete sich ein Königssohn und erbot sich, das Wagnis zu unternehmen. Er ward wohl aufgenommen und abends in ein Zimmer geführt, das an den Schlafsaal stieß. Sein Bett war da aufgeschlagen, und er sollte acht haben, wo sie hingingen und tanzten; und damit sie nichts heimlich treiben konnten oder zu einem andern Ort hinausgingen, war auch die Saaltüre offen gelassen.

Dem Königssohn fiel's aber wie Blei auf die Augen und er schlief ein, und als er am Morgen aufwachte, waren alle zwölfe zum Tanz gewesen, denn ihre Schuhe standen da und hatten Löcher in den Sohlen. Den zweiten und dritten Abend gings nicht anders, und da ward ihm sein Haupt ohne Barmherzigkeit abgeschlagen. Es kamen hernach noch viele und meldeten sich zu dem Wagestück, sie mußten aber alle ihr Leben lassen.

Nun trug sichs zu, dass ein armer Soldat, der eine Wunde hatte und nicht mehr dienen konnte, sich auf dem Weg nach der Stadt befand, wo der König wohnte. Da begegnete ihm eine alte Frau, die fragte ihn, wo er hin wollte. „Ich weiß selber nicht recht,“ sprach er, und setzte im Scherz hinzu „ich hätte wohl Lust, ausfindig zu machen, wo die Königstöchter ihre Schuhe vertanzen, und darnach König zu werden.“

„Das ist so schwer nicht,“ sagte die Alte, „du mußt den Wein nicht trinken, der dir abends gebracht wird, und mußt tun, als wärst du fest eingeschlafen.“

Darauf gab sie ihm ein Mäntelchen und sprach „wenn du das umhängst, so bist du unsichtbar und kannst den zwölfen dann nachschleichen.“

Wie der Soldat den guten Rat bekommen hatte, wards Ernst bei ihm, so daß er ein Herz faßte, vor den König ging und sich als Freier meldete. Er ward so gut aufgenommen wie die andern auch, und wurden ihm königliche Kleider angetan. Abends zur Schlafenszeit ward er in das Vorzimmer geführt, und als er zu Bette gehen wollte, kam die älteste und brachte ihm einen Becher Wein: aber er hatte sich einen Schwamm unter das Kinn gebunden, ließ den Wein da hineinlaufen, und trank keinen Tropfen. Dann legte er sich nieder, und als er ein Weilchen gelegen hatte, fing er an zu schnarchen wie im tiefsten Schlaf. Das hörten die zwölf Königstöchter, lachten, und die älteste sprach „der hätte auch sein Leben sparen können.“

Danach standen sie auf, öffneten Schränke, Kisten und Kasten, und holten prächtige Kleider heraus: putzten sich vor den Spiegeln, sprangen herum und freuten sich auf den Tanz. Nur die jüngste sagte „ich weiß nicht, ihr freut euch, aber mir ist so wunderlich zumut: gewiß widerfährt uns ein Unglück.“

„Du bist eine Schneegans,“ sagte die älteste, „die sich immer fürchtet. Hast du vergessen, wie viel Königssöhne schon umsonst dagewesen sind? dem Soldaten hätt ich nicht einmal brauchen einen Schlaftrunk zu geben, der Lümmel wäre doch nicht aufgewacht.“

Wie sie alle fertig waren, sahen sie erst nach dem Soldaten, aber der hatte die Augen zugetan, rührte und regte sich nicht, und sie glaubten nun ganz sicher zu sein. Da ging die älteste an ihr Bett und klopfte daran: alsbald sank es in die Erde, und sie stiegen durch die Öffnung hinab, eine nach der andern, die älteste voran. Der Soldat, der alles mit angesehen hatte, zauderte nicht lange, hing sein Mäntelchen um und stieg hinter der jüngsten mit hinab. Mitten auf der Treppe trat er ihr ein wenig aufs Kleid, da erschrak sie und rief „was ist das? wer hält mich am Kleid?“

„Sei nicht so einfältig,“ sagte die älteste, „du bist an einem Haken hängen geblieben.“

Da gingen sie vollends hinab, und wie sie unten waren, standen sie in einem wunderprächtigen Baumgang, da waren alle Blätter von Silber und schimmerten und glänzten. Der Soldat dachte „du willst dir ein Wahrzeichen mitnehmen,“ und brach einen Zweig davon ab: da fuhr ein gewaltiger Krach aus dem Baume. Die jüngste rief wieder „es ist nicht richtig, habt ihr den Knall gehört?“

Die älteste aber sprach „das sind Freudenschüsse, weil wir unsere Prinzen bald erlöst haben.“ Sie kamen darauf in einen Baumgang, wo alle Blätter von Gold, und endlich in einen dritten, wo sie klarer Demant waren: von beiden brach er einen Zweig ab, wobei es jedesmal krachte, daß die jüngste vor Schrecken zusammenfuhr: aber die älteste blieb dabei, es wären Freudenschüsse.

Sie gingen weiter und kamen zu einem großen Wasser, darauf standen zwölf Schifflein, und in jedem Schifflein saß ein schöner Prinz, die hatten auf die zwölfe gewartet, und jeder nahm eine zu sich, der Soldat aber setzte sich mit der jüngsten ein. Da sprach der Prinz „ich weiß nicht, das Schiff ist heute viel schwerer, und ich muß aus allen Kräften rudern, wenn ich es fortbringen soll.“

„Wovon sollte das kommen,“ sprach die jüngste, „als vom warmen Wetter, es ist mir auch so heiß zumut.“ Jenseits des Wassers aber stand ein schönes hellerleuchtetes Schloß, woraus eine lustige Musik erschallte von Pauken und Trompeten.

Sie ruderten hinüber, traten ein, und jeder Prinz tanzte mit seiner Liebsten; der Soldat aber tanzte unsichtbar mit, und wenn eine einen Becher mit Wein hielt, so trank er ihn aus, daß er leer war, wenn sie ihn an den Mund brachte; und der jüngsten ward auch angst darüber, aber die älteste brachte sie immer zum Schweigen. Sie tanzten da bis drei Uhr am andern Morgen, wo alle Schuhe durchgetanzt waren und sie aufhören mußten.

Die Prinzen fuhren sie über das Wasser wieder zurück, und der Soldat setzte sich diesmal vornen hin zur ältesten. Am Ufer nahmen sie von ihren Prinzen Abschied und versprachen, in der folgenden Nacht wiederzukommen.

Als sie an der Treppe waren, lief der Soldat voraus und legte sich in sein Bett, und als die zwölf langsam und müde heraufgetrippelt kamen, schnarchte er schon wieder so laut, dass sie's alle hören konnten, und sie sprachen „vor dem sind wir sicher.“

Da taten sie ihre schönen Kleider aus, brachten sie weg, stellten die zertanzten Schuhe unter das Bett und legten sich nieder. Am andern Morgen wollte der Soldat nichts sagen, sondern das wunderliche Wesen noch mit ansehen, und ging die zweite und die dritte Nacht wieder mit.

Da war alles wie das erstemal, und sie tanzten jedesmal, bis die Schuhe entzwei waren. Das drittemal aber nahm er zum Wahrzeichen einen Becher mit. Als die Stunde gekommen war, wo er antworten sollte, steckte er die drei Zweige und den Becher zu sich und ging vor den König, die zwölfe aber standen hinter der Türe und horchten, was er sagen würde.

Als der König die Frage tat „wo haben meine zwölf Töchter ihre Schuhe in der Nacht vertanzt?“ so antwortete er „mit zwölf Prinzen in einem unterirdischen Schloß,“ berichtete, wie es zugegangen war, und holte die Wahrzeichen hervor. Da ließ der König seine Töchter kommen und fragte sie, ob der Soldat die Wahrheit gesagt hätte, und da sie sahen, daß sie verraten waren und leugnen nichts half, so mußten sie alles eingestehen.

Darauf fragte ihn der König, welche er zur Frau haben wollte. Er antwortete „ich bin nicht mehr jung, so gebt mir die älteste.“ Da ward noch am selbigen Tage die Hochzeit gehalten und ihm das Reich nach des Königs Tode versprochen. Aber die Prinzen wurden auf so viel Tage wieder verwünscht, als sie Nächte mit den zwölfen getanzt hatten.

Die Entstehungsgeschichte

Das Märchen „Die zertanzten Schuhe“ ist eines der vielen Volksmärchen, die von den Brüdern Grimm gesammelt und in ihrer berühmten Sammlung Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht wurden. Die Ursprünge dieses Märchens reichen weit zurück und spiegeln eine mündliche Tradition wider, die sich über Generationen erstreckt hat. Die Brüder Grimm, Jacob und Wilhelm, sammelten diese Geschichten in einem Bemühen, die deutsche Kultur und Folklore vor dem Vergessen zu bewahren. „Die zertanzten Schuhe“ wurde erstmals 1812 in der ersten Auflage ihrer Märchensammlung veröffentlicht und hat seitdem zahlreiche Überarbeitungen erfahren.

Die Entstehung des Märchens könnte von historischen Ereignissen oder gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst worden sein, wie dem Wandel der sozialen Strukturen und der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Märchen fungierten oft als Mittel, um moralische und ethische Lektionen zu vermitteln, verpackt in einer unterhaltsamen Geschichte, die für Erwachsene und Kinder gleichermaßen ansprechend war.

Motive und Symbole

Die wiederkehrenden Motive und Symbole in „Die zertanzten Schuhe“ sind tiefgründig und vielschichtig. Das zentrale Motiv der zertanzten Schuhe symbolisiert Geheimnisse, Rebellion und die Sehnsucht nach Freiheit. Die Schuhe selbst könnten als Metapher für den Wunsch nach Entkommen aus den gesellschaftlichen Zwängen und der Suche nach Vergnügen gesehen werden.

Ein weiteres wichtiges Symbol ist das nächtliche Reich, in das die Prinzessinnen gehen. Dies könnte die unbekannten und unerforschten Aspekte des Selbst oder der Gesellschaft darstellen. Die Verwendung von verzauberten Gegenständen und die Reise in eine andere Welt sind Motive, die in vielen Kulturen zu finden sind, was die universelle Natur von Märchen und ihre Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten, unterstreicht.

Vergleich mit anderen Märchen

„Die zertanzten Schuhe“ teilt thematische und strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen Märchen, wie „Aschenputtel“ und „Die zwölf Prinzessinnen“. All diese Geschichten beinhalten Elemente von Geheimnissen, verbotenen Wünschen und der Überwindung von Hindernissen. Der Vergleich dieser Märchen zeigt die Vielfalt und Einzigartigkeit märchenhafter Erzählungen und wie ähnliche Themen auf unterschiedliche Weise erkundet werden können.

Literarische und kulturelle Bedeutung

Im Laufe der Zeit hat „Die zertanzten Schuhe“ die Literatur und Kultur maßgeblich beeinflusst. Das Märchen wurde in verschiedenen Medien adaptiert, darunter Film, Theater und Literatur. Diese Adaptionen zeigen die zeitlose Anziehungskraft der Geschichte und ihre Fähigkeit, unterschiedliche Generationen und Kulturen anzusprechen. Darüber hinaus hat das Märchen als Inspiration für moderne Autoren und Künstler gedient, die seine Themen und Motive in neuen und kreativen Weisen erforschen.

Interpretationen und Kritik

Die Interpretationen von „Die zertanzten Schuhe“ sind vielfältig und spiegeln die unterschiedlichen kulturellen und persönlichen Perspektiven der Betrachter wider. Einige sehen das Märchen als eine Erzählung über die Emanzipation und Selbstbestimmung, während andere es als Warnung vor den Gefahren der Ungehorsamkeit interpretieren. Zeitgenössische und historische Kritiken haben die Rolle der Geschlechter und die Darstellung der Autorität in dem Märchen hinterfragt.

In der modernen Gesellschaft wird „Die zertanzten Schuhe“ oft als Metapher für die Suche nach Identität und die Überwindung von Beschränkungen gesehen. Das Märchen bietet wertvolle Lehren über die Bedeutung von Mut, Neugier und der Treue zu sich selbst, die auch heute noch Resonanz finden.

Adaptionen von „Die zertanzten Schuhe“

Das Märchen "Die zertanzten Schuhe" hat eine reiche Geschichte von Adaptionen in verschiedenen Formen und Medien erfahren, die seine zeitlose Anziehungskraft und kulturelle Relevanz unterstreichen. Diese Adaptionen reichen von Bühneninszenierungen und Ballettaufführungen bis hin zu Filmen, literarischen Werken und sogar modernen digitalen Interpretationen. Jede dieser Adaptionen bringt neue Perspektiven und Interpretationen in die ursprüngliche Geschichte ein und zeigt dabei die Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit des Märchens an unterschiedliche kulturelle und historische Kontexte.

Theater und Ballett

Im Theaterbereich haben dramatische und musikalische Interpretationen von "Die zertanzten Schuhe" das Publikum fasziniert. Ballettversionen, die die Geschichte durch Tanz und Musik zum Leben erwecken, heben besonders die mystische und verzauberte Atmosphäre des Märchens hervor. Diese Aufführungen betonen oft die Eleganz und das Geheimnis der nächtlichen Abenteuer der Prinzessinnen und nutzen die körperliche Ausdruckskraft des Balletts, um die emotionale Tiefe der Geschichte zu erforschen.

Film und Fernsehen

In der Filmindustrie wurde „Die zertanzten Schuhe“ sowohl in traditionellen als auch in modernisierten Adaptionen dargestellt. Diese reichen von getreuen Umsetzungen der Grimm'schen Vorlage bis hin zu kreativen Neuerzählungen z. B. Barbie in: Die 12 tanzenden Prinzessinnen, die in zeitgenössischen Settings oder mit zusätzlichen Plot-Elementen spielen. Animationsfilme und Live-Action-Adaptionen haben die Geschichte einem breiten Publikum näher gebracht, wobei oft visuelle Effekte genutzt werden, um die magische Welt der zertanzten Schuhe eindrucksvoll darzustellen.

Der Film „Die zertanzten Schuhe“, wurde von der talentierten Regisseurin Ursula Schmenger im Jahr 1977 geschaffen. Die Premiere des Films fand am 24. Dezember 1977 im Fernsehen der DDR statt und begeisterte das Publikum mit seiner fesselnden Darstellung der zauberhaften Geschichte. Ursula Schmenger gelang es, die Magie und Geheimnisse des Märchens auf beeindruckende Weise zum Leben zu erwecken, und schuf damit einen zeitlosen Klassiker, der auch heute noch die Zuschauer in seinen Bann zieht. Der Film „Die zertanzten Schuhe“ ist ein wahrer Schatz der deutschen Filmgeschichte und ein unvergessliches Meisterwerk, das die Fantasie und Herzen der Zuschauer auf der ganzen Welt berührt.

Digitale Medien und moderne Interpretationen

Mit dem Aufkommen digitaler Medien haben sich neue Formen der Adaption entwickelt, einschließlich Webserien, Podcasts und interaktiven Online-Erzählungen, die „Die zertanzten Schuhe“ in das digitale Zeitalter überführen. Diese modernen Interpretationen nutzen die Möglichkeiten des Internets, um interaktive und partizipative Erlebnisse zu schaffen, die das Publikum einladen, sich aktiv an der Entfaltung der Geschichte zu beteiligen.

Insgesamt zeigen die vielfältigen Adaptionen von „Die zertanzten Schuhe“, wie ein klassisches Märchen weiterhin inspiriert und Generationen von Künstlern, Autoren und Kreativen beeinflusst. Durch die immer neuen Interpretationen bleibt die Geschichte lebendig und relevant und spricht weiterhin ein breites und vielfältiges Publikum an.

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