Dornröschen: Interpretation des Märchens

Im Jahr 1812 veröffentlichten die deutschen Sprach-und Literaturforscher Jakob und Wilhelm Grimm eine Märchensammlung mit dem Titel „Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm“. Darin ist unter anderem das Märchen „Dornröschen“ enthalten. Es handelt sich dabei um ein ein uraltes Märchen, dessen früheste bekannte Version sich in der Erzählung „Perceforest“ aus dem frühen 17. Jahrhundert befindet. Der italienische Schriftsteller und Höfling Giambattista Basile veröffentlichte sie 1634 in seiner Geschichtensammlung „Il Pentamerone“ unter dem Namen „Sole, Luna e Talia“.

Sehr bekannt wurde auch eine Dornröschen-Version, die der bekannte französische Schriftsteller und Geschichtenerzähler Charles Perrault im Jahr 1697 in seinen Erzählungen „Histoires ou Contes du temps passé“ (Geschichten oder Erzählungen aus alter Zeit) unter dem Titel „La belle au bois dormant“ (Die schlafende Schöne im Wald) veröffentlichte.

Und darum geht es im Märchen:

Ein Königspaar wünscht sich sehnlichst ein Kind und kann keines bekommen. Aber nach langer Zeit geschieht es, dass die Königin im Bade sitzt und ein Frosch aus dem Wasser kriecht und ihr die sehnsüchtig gewünschte Tochter verspricht. Als die kleine Prinzessin endlich zur Welt kommt, wird sie mit großem Jubel empfangen. Zu ihrer Tauffeier werden viele Menschen und darunter auch zwölf weise Frauen oder Feen eingeladen. Sie wünschen der Königstochter die Eigenschaften Tugend, Weisheit und Reichtum.

Bevor die letzte Fee ihren Wunsch vorbringen kann, taucht eine dreizehnte Fee auf, die nicht zur Taufe eingeladen wurde, weil die goldenen Teller nicht ausreichten. Sie verflucht aus Rache für die Zurücksetzung die kleine Prinzessin und verheißt ihr, dass sie sich an ihrem 15.Geburtstag an einer Spindel stechen und an diesem Stich sterben wird. Die letzte der eingeladenen Feen, die ihren Wunsch noch nicht ausgesprochen hatte, tut ihr möglichstes, um den Fluch wenigstens etwas abzumildern. Sie wandelt den Tod in einen hundertjährigen Schlaf um. Das erschrockene Königspaar tut nun alles, um die kleine Prinzessin zu beschützen.

Sie wird Tag und Nacht bewacht und behütet, darf nie tun, was sie möchte und was alle anderen Kinder im Reich dürfen. Außerdem werden im ganzen Königreich alle Spindeln eingesammelt und vernichtet. Aber das hilft alles nichts. Genau am 15.Geburtstag entwischt die Prinzessin ihren Bewachern. Sie streift überall im Schloss umher und gelangt über eine enge Wendeltreppe schließlich zum Turmzimmer, wo ein rostiger Schlüssel im Türschloss steckt. Sie öffnet die Tür und sieht sich einer alten Frau (der bösen Fee) gegenüber, die am Spinnrad sitzt. Die Prinzessin sticht sich an der ihr von der bösen Fee gereichten Spindel und sinkt in den Schlaf, mit ihr der gesamte Hofstaat und ihre Eltern.

Das Dornröschenschloss wird nach und nach mit einer dichten undurchdringlichen Dornenhecke umsponnen. Viele junge Männer, die von der Geschichte hören, versuchten hindurch zu kommen und die Prinzessin zu erlösen. Alle sterben in den Dornen. Erst nach hundert Jahren schafft es ein Prinz, durch die Hecke zu kommen und das Dornröschen und den ganzen Königshof zu erlösen. Er küsst die kleine Prinzessin in ihrem Prinzessin Bett wach. Die beiden werden ein Paar, feiern Hochzeit und lebten glücklich und zufrieden.

Was will uns das Märchen vom Dornröschen sagen?

Nun wenn man es genau betrachtet und auch auf Hinweise achtet, die auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen, dann kann man bei einer Märchenanalyse eine Menge in die Geschichte hineindeuten und viele Lebensweisheiten finden.

Ein zentrales Thema des Märchens vom Dornröschen ist die Passivität und das lange Warten der Protagonisten. Es fängt damit an, dass das Königspaar sehr lange sehnlichst auf ein Kind warten muss und steigert sich schließlich zu dem noch viel längerem, nämlich hundert Jahre langen Warten auf die Erlösung aus dem Zauberschlaf. Aber es erweist sich, dass eine lange Zeit des Abwartens, der Ruhe und der Kontemplation am Ende Früchte trägt und Probleme so gelöst werden können.

Ein anderer Grundgedanke scheint zu sein, dass wir in unserem Leben von der Geburt an und bis zum Tod immer wieder auch Gefahren ausgesetzt sind, die das Leben verkürzen oder sogar beenden können und die wir nicht alle vorhersehen können. Der König und die Königin im Märchen wollten nur Gutes für ihr Kind und erkannten nicht, dass sie das Schicksal in Gestalt der 13. Fee herausforderten. Auch die Zahl der weisen Frauen, die zu dem Fest eingeladen werden, spielt eine sehr wichtige Rolle. Schließlich gilt die 12 als Zahl der Vollkommenheit, die 13 dagegen gilt als böse Zahl oder Unglückszahl.

Auch das Dornröschenschloss selbst steckt voller Symbolik. Es scheint auf der einen Seite für die kleine ständig überwachte Prinzessin ein Paradies zu sein, auf der anderen Seite aber auch eine Art von Gefängnis. Und als der Fluch das gesamte Schloss trifft und es hinter der dornen starrenden Rosenhecke in seinen todesähnlichen Schlaf fällt, symbolisiert das beides, Bann und Schutz zugleich, oder Tod und Auferstehung. Denn schließlich verwandeln sich die stacheligen Dornen am Ende ja doch in blühende Rosen.

Aber auch diese Rosen haben zusammen mit dem Datum, an dem Dornröschen der Fluch traf, eine große Bedeutung. Die kleine Prinzessin wurde 15 Jahre alt, war also gerade am Beginn der Pubertät, der Verwandlung vom Kind zur Frau angekommen. Im Mittelalter war das genau das Alter, in dem Mädchen verheiratet werden konnten. Diesem Schritt vom Mädchen zur erwachsenen Frau konnte Dornröschen nicht entkommen, diesem „Fluch“ ließ es sich nicht ausweichen.

Als sie in den langen Schlaf fiel, war das für sie eine Übergangsphase, der Zwischenschritt zur körperlichen und seelischen Reife und die Dornen beschützten sie davor, ihn zu früh gehen zu müssen. Erst als die Zeit abgelaufen war, schaffte es der auserwählte Jüngling, zur Prinzessin vorzudringen und sie zu erlösen. Nun war sie bereit für die Liebe und Sexualität (natürlich in der Ehe) und genau in diesem Moment wurden die Dornen zu Rosen. Das ganze klingt in unserer Zeit total verkrampft und altmodisch, aber es muss natürlich im Kontext zu den bei der Entstehung des Märchens herrschenden Moralvorstellungen betrachtet werden.

Dornröschen: psychoanalytische Deutung

Viele Psychoanalytiker und Psychotherapeuten haben sich mit der Analyse von Märchen eingehend beschäftigt. Einer von ihnen ist Eugen Drewermann, ein sehr bekannter deutscher Theologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller, zu dessen Werk auch die Interpretation verschiedenster Märchen gehört. Nach seiner Meinung geht es in den alten Märchen sehr oft um die Balance zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, um das Festhalten und das Loslassen können, um den Sieg des Bedrohten und den Aufstieg des Verachteten.

Dornröschen ist nach Drewermanns tiefenpsychologischer Deutung eine junge Frau, die nicht erwachsen werden kann, weil es ihr nicht gelingt, sich aus der für sie schicksalhaften und auch angst-und schulderfüllten Bindung zu den Eltern zu lösen. Schon ihre Geburt ist mit zu vielen Wünschen und Sehnsüchten befrachtet. Das zeigen unter anderem die 12 goldenen Teller, die bei der Taufe benutzt werden. Einfache Teller hätten es bei diesem für die Eltern so wichtigen Anlass, nicht getan. Und auch danach versucht vor allem der Vater, das Mädchen vor allem Ungemach zu beschützen und geht damit weit über das normale Maß hinaus.

Dornröschen wird zu einem überbehüteten Kind, dass auf diese Weise nicht auf das Erwachsenwerden vorbereitet wird. Es kann die eigenen Fähigkeiten nicht entwickeln, weil äußere Gefahrenquellen ausgeschaltet werden. Weil Dornröschen nicht lernt, mit Gefahr und Bedrohung umzugehen, stürzt es ins Verderben, gerät in die Turmkammer und sticht sich an der so gefährlichen Spindel.

Und der hundertjährige Schlaf? Er steht für den Psychoanalytiker symbolisch für Dornröschens Unvermögen, im Leben und in der Liebe weiter voran zu kommen. Das Mädchen hat den Vater enttäuscht, weil es ungehorsam war und Verbote ignorierte. Deshalb, so Drewermann ist es nun von der Welt isoliert und führt „ein Leben, das verträumt wird und nie in die eigene Realität kommt“.

Der hundertjährige Schlaf friert sozusagen die Welt von Dornröschen ein. Es erlebt nichts mehr, nicht zuletzt deshalb, weil ja auch noch eine dichte Dornenhecke drum herum gezogen ist. Erst als die Prinzessin zu körperlicher und emotionaler Reife gelangt ist, weicht die anscheinend undurchdringliche Hecke wie von selbst und lässt den Prinzen durch, damit er der Geliebten „ihre Unschuld zurück geben und sie zur Liebe und zum Geliebtwerden erwecken kann“.

Auch Bruno Bettelheim, ein vor 35 Jahren verstorbener Psychoanalytiker und Kinderpsychologe mit österreichischen Wurzeln beschäftigte sich tiefenpsychologisch mit dem Märchen vom Dornröschen. Für ihn war das zentrale Thema der Dornröschen-Fassungen von Perrault und den Gebrüdern Grimm die Tatsache, dass die Eltern das sexuelle Erwachen ihrer Kinder nicht unterdrücken können, ganz gleich, was sie dagegen unternehmen. Dornröschen fällt in den Schlaf am 15. Geburtstag, weil in diesem Alter gewöhnlich die Menstruation einsetzte.

Dafür steht der Stich mit der Spindel und das heraustretende Blut. Die Wendeltreppe zum Turm, wo das Verhängnis seinen Lauf nimmt, steht für das Erwachen sexueller Wünsche und Träume, die kleine Kammer symbolisiert die Vagina und der Schlüssel in der Tür den Geschlechtsakt.

Dornröschen war aber auf die erwachende Weiblichkeit nicht vorbereitet und den folgenden hundertjährigen Todesschlaf sah Bettelheim symbolisch als Warnung vor zu früh einsetzender Sexualisierung an, weil es eine Übergangszeit gäbe, in der es zwar möglich sei, sich fortzupflanzen, die emotionale Reife aber noch fehlen würde.

Auch andere Psychoanalytiker und Psychotherapeuten, wie zum Beispiel Dr. Mathias Jung von der Martin-Luther-Universität Halle, sehen in dem Märchen Dornröschen Symbole für das Erwachen der weiblichen Sexualität, für die durch traumatische sexuelle Ereignisse aber auch durch die verheerenden Folgen einer die Lebendigkeit erstickenden elterlichen Fürsorge ausgelösten Verletzungen.

Dornröschen hat niemand auf das Erwachsenwerden und das Hereinbrechen der Sexualität vorbereitet. Gerade weil ihr Vater, der König, sie vor allen vielleicht auch einmal leid-oder schmerzvollen Erfahrungen bewahren wollte, ist er schuld daran, dass sie gar keine Erfahrungen machen konnte. Sie hat aufgrund ihres Aufwachsens und ihrer Erziehung keine Chance auf einen natürlichen und entspannten sexuellen Reifungsprozess.

Deshalb zieht sie sich hinter eine Mauer aus Dornen und Stacheln zurück, schaltet praktisch den seelischen Notbetrieb ein. Aber dieser Rückzug in die asexuelle Kindlichkeit ist nicht für immer, ist kein Dauerzustand. Wenn die Zeit reif ist und der richtige „liebensfähige“ Mann erscheint, verschwindet die Hecke und der Schlaf endet.

Aber es gibt durchaus auch Fälle, in denen aus dem Dornröschen keine glückliche Frau wird. Wenn sich die Symptome der seelischen Erstarrung nicht lösen, wenn die Zeit keine heilende Wirkung hat und und kein heilender Prinz erscheint, dann bleibt die Dornenhecke stachlig und wird vielleicht immer höher. Und hinter ihr ist dann eine Frau verborgen, die lieben möchte, aber nicht kann, Frau sein möchte, aber es nicht ist. Zwar schützen die Dornen sie gegen vermeintliche Gefahren von außen aber niemand erkennt ihr inneres Wesen, ihre Schönheit und ihren Wert.

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